FINTQ* und Corona

Wie soll ich zu Hause bleiben, wenn ich kein Zuhause habe?

Wer soll meine Miete bezahlen, wenn ich keinen Lohn mehr bekomme?

Wie soll ich der Polizei gegenübertreten, wenn ich meine Rechte nicht mehr kenne, weil all die neuen Maßnahmegesetze so unklar  formuliert sind?

Was soll ich tun, wenn ich zu Hause bleiben soll, aber tagtäglich häuslicher Gewalt ausgesetzt bin?

Wie soll ich meine Hausaufgaben machen ohne das I Pad, das dafür dringendst empfohlen wurde? Und wer hilft mir dabei?

Wie soll ich mich um meine Kinder kümmern, wenn ich jeden Tag Überstunden im Krankenhaus machen muss?

Wie soll ich die Zeit hier im Knast überleben ohne Besucher haben zu dürfen?

Und was tut wohl mein Opa den ganzen Tag im Altersheim ohne meine täglichen Besuche?

Warum schauen mir die Leute auf der Strasse nicht mal mehr in die Augen, als könnte man sich durch ein Lächeln anstecken?

Warum ist diese neue Tracking App so intransparent und will mir nicht sagen, was sie mit meinen Daten alles anstellen kann?

Warum hat mich die Polizei angehalten, als ich alleine spazieren war? Und warum haben sie in Wien die Waffe gezogen bei einem ähnlichen Fall?

Wie gehts wohl meinem guten Freund, der alleine wohnt und immer wieder unter Angstzuständen leidet?

Warum werden immer mehr Menschen in schon überfüllte Geflüchtetenunterkünfte gebracht, obwohl doch gesagt wird, dass wir uns isolieren und Abstand halten sollen?

Und dürfen Menschenrechtsorganisationen die Arbeit in diesen Unterkünften noch überprüfen?

Warum hört die Solidarität an den Staatsgrenzen auf? Und wie können kapitalistische Regierungen überhaupt über Solidarität reden, ohne dass ihre Nase wächst?

Und warum redet eigentlich niemand mehr über die menschenverachtenden Zustände an den Außengrenzen Europas? Oder die Freiheitskämpfer*innen in Kurdistan? Oder die Proteste in Chile? Die Folter in syrischen Gefängnissen? Oder die Abholzung des Amazonas-Regenwaldes? Um nur einige wenige Punkte zu nennen, die durch die aktuelle Lage in den Hintergrund geraten sind.

Diese und viele weitere Fragen haben wir uns in den vergangenen Wochen gestellt.

Wir als miss*mutig Kollektiv wollen FINTQ* empowern und eine sichere Umgebung schaffen, in der wir uns ausdrücken und voneinander lernen können. Das heißt natürlich, dass wir die Richtlinien und Maßnahmen befolgen, die zur Verhinderung der Ausbreitung des Coronavirus festgelegt wurden.

Dennoch ist es uns wichtig, genau zu beobachten, wie die Coronakrise von staatlicher und wirtschaftlicher Seite behandelt wird und was für Auswirkungen die Maßnahmen, Regelungen und neuen Gesetze haben. Wir wollen uns und andere vor dem Virus schützen, wir wollen die Verbreitung des COVID19 verhindern und wir wollen es solidarisch tun. Und zwar konsequent solidarisch.

Momentan begegnet man vor Allem zwei ideologischen Haltungen: Die einen fordern lautstark: “stay the fuck home”, die Anderen relativieren das Virus und reden davon, dass alles nur Panikmache sei. Wir distanzieren uns ganz klar von beiden Meinungen.

Es ist nicht nur unangebracht, von Menschen, die weiterhin Ausgaben für Miete und Lebensmittel haben, zu fordern, zu Hause zu bleiben, sondern es ist auch arbeiter*innen- und armenfeindlich. Wirklich zu Hause bleiben ist erst möglich, wenn ein Quarantäne-Grundeinkommen zugesichert wird.
Es ist jedoch genauso vermessen, das Coronavirus als “normale” Grippe zu bezeichnen, da es die kapitalistische Verwertungslogik reproduziert, indem behauptet wird, dass “ja nur Alte und Vorerkrankte betroffen sind”. Diese Aussage spiegelt eine Meinung wieder, nach der Menschen, die (angeblich) keinen oder weniger Mehrwert schaffen, eben auch weniger oder nichts wert sind.

Während auf dem Balkon gestanden und geklatscht wird und dabei tatsächlich geglaubt wird, dies sei die ausreichende Solidarität, schuften vorwiegend FINTQ* in Krankenhäusern, Alters- und Pflegeheimen, in der Reinigung, in Kindertagesstätten und in Fabriken. Ihre Löhne verbessern sich nicht durch unseren Applaus. Ihr Schlafmangel wird dadurch auch nicht wettgemacht. Und dieser Applaus zeigt auch die miserablen Arbeitsbedingungen nicht auf, in denen diese (vorwiegend FINTQ*) Menschen im Moment arbeiten. Der Markt regelt, dass unser Gesundheitssystem kaputt gespart ist, weil es nach Kriterien der Effizienz funktionieren soll und nicht nach den menschlichen Bedürfnissen. Diese falsche Logik treibt das Personal bewusst schon in den Nicht-Krisenzeiten über ihre Belastungsgrenze und spart auch an wichtigen Punkten der Patient:innen-Versorgung. Nicht nur die Krankenhäuser fallen ihr zum Opfer, sondern genauso Kulturbetriebe, Universitäten, politische und soziale Einrichtungen usw., wohingegen alles, was der Mehrwertproduktion dient, ohne Pause weiter betrieben wird.

Da auch die staatlichen Betreuungseinrichtungen geschlossen wurden, fällt die Care-Arbeit im Bereich der Familie oft auf FINTQ* zurück.

Und als wäre dies nicht genug, nimmt die häuslichen Gewalt in Österreich seit Beginn der Coronakrise zu. Dadurch, dass ganze Familien nun tagtäglich zu Hause bleiben, ist es für Menschen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, umso schwieriger, Hilfe zu holen. Es ist schier unmöglich, heimlich zu telefonieren, man darf keine anderen Leute treffen, um sich jemandem anzuvertrauen, die Frauenhäuser sind maßlos überlastet und Anzeigen von häuslicher und/oder sexualisierter Gewalt bleiben oftmals ohne strafrechtliche Konsequenzen.

Es wird von Risikogruppen geredet: Von älteren Menschen, Asthma- und Diabetes- Betroffenen, Bluthochdruck-, Krebs- und Autoimmunerkrankten. Es ist wichtig darüber zu sprechen und die Menschen, die zu Risikogruppen gehören, besonders gut zu schützen. Aber gehören denn z.B. Wohnungslose nicht auch zur Risikogruppe? Gibt es nicht auch Risikogruppen, die Risikogruppen sind, weil sie strukturell benachteiligt sind, weil sie z.B. kein Zuhause haben, sich nicht täglich die Hände 5 mal waschen können und sich die Schutzmaske bei Billa nicht leisten können? Man muss sich darum kümmern, dass diese Menschen ein Dach über dem Kopf und Zugang zu Hygieneprodukten haben. Die Notschlafstellen und die Wohnungslosenhilfe müssen mehr Unterstützung von staatlicher Seite erfahren.

Hinzu kommt, wer schon vor der Krise von struktureller Benachteiligung betroffen war, ist auch jetzt mit erhöhter struktureller Gewalt konfrontiert.  Angefangen bei einem regelrechten Aufblühen von racial profiling, erhöhter Polizeigewalt und immer offensichtlicherer Diskriminierung in sozialen Begegnungen. Außerdem führen die stärkeren staatlichen Kontrollen und die erhöhte Polizeipräsenz dazu, dass sich vor allem BIPoC immer unsicherer fühlen.

Des Weiteren stecken durch die Maßnahmen und neuen Gesetzgebungen viele Menschen in ihrem Asylverfahren fest mit völlig ungewisser Zukunft. Obwohl bürokratische Prozesse weiterlaufen, werden Asylverfahren mi Begründung der aktuellen Krisensituation nicht weiter bearbeitet. Leute werden zusammengepfercht in Lagern an den Außengrenzen alleine gelassen, eine Hilfsorganisation nach der anderen verlässt die Camps, es fehlt an Grundversorgung und die Angriffe durch Faschisten nehmen drastisch zu. Wir fordern die sofortige Auflösung dieser Lager und die Aufnahme alles dort Lebenden.

All diese machtstrukturellen Missstände werden durch die Coronakrise noch offensichtlicher, sie sind jedoch keineswegs neu oder wurden durch die Krise ausgelöst. Sie sind die Folgen eines neoliberalen und postkolonialen Systems mit dem Namen Kapitalismus.

Wir müssen uns wehren. Und wir tun es. Weltweit entstehen anarchistische, antiautoritäre und antikapitalistische Initiativen, die, anders als unsere Regierungen, auch schon vor der Coronakrise über “Solidarität von unten” gesprochen haben.

Der Aufruf zum Mietstreik in Salzburg zum Beispiel,  das rote Telefon in Neapel der Gruppe Potere al Popolo (die Macht der Bevölkerung), die Balkonproteste der Feminist*innen in Chile und unzählige weitere Bewegungen.

Auch wir wollen euch ermutigen, euch selber und andere zu bilden, die zur Verfügung stehenden Plattformen zu nutzen und euch miteinander zu vernetzen.
Lasst uns nicht nur über Solidarität sprechen, sondern auch solidarisch handeln und für eine feministische Zukunft kämpfen!

Demnächst findet ihr hier auf unserer Webseite auch Links zu anderen feministisch orientierten Gruppierungen.